39 Jahre alt werde ich im Mai. 39 Jahre, das ist fast schon 40, also mitten im Leben. Das ist nicht mehr jung, aber auch nicht alt, es ist genau das richtige Alter – um Bilanz zu ziehen.
Es ist genau das richtige Alter, um alles zu prüfen und zu schauen was gut lief, was schlecht lief und Dinge zu verändern. Wenn nicht jetzt, wann dann?
Ein großer Prüffall ist Carsten, mein Freund, der Vater meiner Tochter Therese. Sie ist 2, ein süßer kleiner Schatz, mein Ein und Alles. Nächstes Jahr kommt sie in die Kita. Dann habe ich wieder Luft zum atmen. Ich werde in meinen Beruf zurück kehren, ich bin Grundschul-Lehrerin, und ich werde mich von Carsten trennen. Vielleicht. Oder ganz bestimmt. Ich weiß es nicht. Noch nicht.
Carsten und ich lernten uns vor 4 Jahren bei einer Weiterbildung kennen. Medienerziehung für Grundschüler, super spannend, und Carsten war der obercoole Seminarleiter. 3 Tage verbrachten wir zusammen im Harz, es war eine kleine Gruppe, vielleicht 20 Leute und Carsten hat das richtig spannend aufgezogen. Was ich da alles lernte, Wahnsinn. Nicht nur für meine Schüler, auch für mich.
Ich war damals knapp 35, Single, und ehrlich gesagt dringend auf der Suche nach einem Mann. Als Grundschullehrerin bekommt man täglich vor Augen geführt, wie sehr die biologische Uhr tickt. Als ich anfing, waren die Eltern meiner Schüler wesentlich älter als ich. Mit 35 hast Du es mit Eltern zu tun, die 10 Jahre jünger sind. Wie gesagt, die biologische Uhr tickt da recht laut.
Carsten ist 2 Jahre jünger als ich. Er hatte nicht vor, eine Familie zu gründen. Männer können sich damit ja ewig Zeit lassen. Es ist ungerecht. Deshalb wußte ich auch nicht, wie und ob ich diese Beziehung zu ihm überhaupt wollte. Es war mehr eine Affäre. Ja, ich fand Carsten sexy. Er hatte damals noch volles verwuscheltes Haar, war schlaksig und trug immer ein lustiges T-Shirt und Turnschuhe. Er teilte sich mit einem Kumpel einen alten VW Bulli, damit fuhren die beiden auf Festivals. Carsten und ich fuhren damit zum Garda See. Er ist Surfer. Surfer sind coole Typen. Lässig. Mir hat das gefallen, hat das alles gefallen, die ganze Umgebung, die coolen Jungs, Carsten, aber ich dachte auch an die Zukunft und nach unserem Garda See Trip war ich verknallt und gleichzeitig desillusioniert. Carsten war ein Kindskopf. Kein Familienvater.
Ich lebte damals noch in Frankfurt und er in München. Eine Fernbeziehung, die mir nicht unrecht war. Ich sagte mir halt immer: ich brauche was Festes, was Richtiges. Traf mich auch mit anderen Männern. Aber am Wochenende kam Carsten – oder ich fuhr nach München – und es war schön. Wir hatten tollen Sex, wirklich tollen Sex, wenn ich heute daran denke, wie lange wir nicht mehr miteinander geschlafen haben. Gottseidank übrigens, weil wenn ich ihn jetzt so ansehe, allein die Vorstellung von Sex finde ich ekelhaft. Carsten ist der unsexieste Mann für mich. In den vier Jahren mit mir hat er 30 Kilo zugenommen, aber tonnenweise Haare verloren. Er trägt jetzt auch keine angesagten T-Shirts mehr, sondern brave Hemden und er ist auch kein spannender wissenschaftlicher Dozent, sondern Angestellter im Kataster Amt, zuständig für Digitalisierung. Spießig ist er. Langweilig. Brav. Eine Tote Hose.
Nach einem Jahr „Fernbeziehung“ wurde ich schwanger. Ich hatte mir der Pille aufgehört, damit sich meine Hormone einpegeln. Was ich Carsten allerdings verschwieg. Ich hatte nicht damit gerechnet, sofort schwanger zu werden. Oder es heimlich billigend in Kauf genommen. Jedenfalls freute ich mich riesig – und als ich es Carsten „beichtete“ war der zwar total vor den Kopf gestossen. Aber dann freute er sich auch.
Am Garda See – wir waren wieder im Surfer Urlaub – machte er mir einen holprigen Heiratsantrag, mitten in einem Streit, ich war nämlich genervt, dass er den ganzen Tag surfte und nur auf dem Wasser verbrachte, während ich allein und gelangweilt und mit Baby-Bauch am Strand saß. So hatte ich mir meinen Urlaub, zumal als Schwangere, nicht vorgestellt. Ich nahm den kleinen Diamantring dann doch an, obwohl ich damals schon wußte, dass ich Carsten nicht heiraten würde. Oder ich war nicht zu 1000 Prozent sicher. Ich vertröstete ich ihn also….“gleich nach der Geburt heiraten wir, versprochen…“
Kurz bevor Therese zur Welt kam, zog ich nach München. Der Abschied von Frankfurt, meinen Freunden, der Schule, das war ganz schön heftig. Vielleicht der größte Fehler in meinem Leben. Ich zog aus meinem Appartement mit Main-Blick in ein Reihenhaus nach Milbertshofen, das ist ein Vorort von München, sehr sehr bürgerlich.
Unser Reihenhaus! Es ist ein Mittelhaus, 115 qm verteilt auf zwei Etagen. Ein Neubezug, modern ausgestattet und einen kleinen Garten haben wir auch. Das Haus haben wir nur bekommen, weil Carstens Mutter die Sekretärin des Hausbesitzers kennt. Das hat Vorteile aber auch Nachteile. Ich hätte den grünen Garten zum Beispiel gerne umgebaut, aber meine „Schwiegermutter“ hatte Angst, dass der Hausbesitzer die Idee absurd finden würde, was dann auf sie zurück fallen würde.
Überhaupt ist Carstens Mutter eine Nervensäge. Sie wohnt ja ganz in der Nähe und deshalb hockt sie uns ständig auf der Pelle. Was auch ein bißchen mein Fehler ist. Denn natürlich nahm ich ihr Angebot, auf Therese aufzupassen, am Anfang gerne an. Ich konnte dann wenigstens mal zum Yoga, zum einkaufen oder in die Stadt. Leider bleibt sie, wenn ich zurück komme, immer noch stundenlang sitzen, sie will dann Kaffee trinken und ratschen und am liebsten hat sie es, wenn dann Carsten heim kommt und wir noch gemeinsam zu Abend essen. Für mich ist das ein Alptraum. Denn ich bekomme dann ungefragte „Nachhilfe“ in Sachen Haushaltsführung. Was ich alles anders machen soll! Es geht mit dem „falsch“ eingeräumten Gewürzregal an und geht weiter mit meiner miserablen Gartenpflege, von der Erziehung von Therese ganz zu schweigen. Carsten ist in Gegenwart seiner Mutter ein totales Weichei. Mami hinten, Mami vorne. Nie nimmt er mich in Schutz und tönt noch in das Horn seiner Mutter. Sein Vater ist ganz nett, aber redet nicht viel und eigentlich kann ich auch mit ihm nichts anfangen. Familie also Horror.
Nachbarn! In unserer „Siedlung“ kennt jeder jeden, als wir einzogen, kam die ganze Straße vorbei um uns zu beglückwünschen. Ich war neu in München, ich kannte keinen, natürlich freute ich mich über Gesellschaft. Es sind alles junge Familien hier, eigentlich passt das, aber die Frauen sind schrecklich. Um 8.30 treffen sich alle im Café im Edeka Markt und trinken ihren Cappuccino. Es gibt da eine kleine Krabbelecke und die Klein-Kinder können spielen. Die Gespräche sind immer gleich, langweilig, man überbietet sich gegenseitig mit Heldentaten der Kinder oder Ehemänner und wehe man kommt nicht. Dann kriegst Du sofort einen Anruf… Es werden auch Backrezepte ausgetauscht, denn am Wochenende wird gebacken. Und gegrillt. Ja, auch ich backe Kuchen. Und Carsten grillt.
Die „Anführerin“ der Siedlungs-Frauen ist eine typische Arzt-Gattin, selbst nix auf die Reihe bekommen aber Mords angeben. Die älteste Tochter geht in die zweite Klasse und schreibt natürlich lauter Einser, die mittlere Tochter ist die „beste Freundin“ meiner Therese, aber kann natürlich schon rechnen und schreiben und Englisch und Geige spielen. Und die kleinste Tochter braucht dringend noch einen kleinen Bruder, deshalb „wir haben so ein tolles Sex-Leben, Du etwa nicht?“ Und natürlich meistert sie ihren Haushalt so vorbildlich, dass ich kotzen könnte.
Am schlimmsten ist die Entwicklung von Carsten. Ich kenne ihn nicht wieder. Aus dem coolen Surfer ist ein spießiger Langweiler geworden. Schon wie er läuft! Er schlappt vor sich hin und lässt die Schultern hängen. Nichts ist dynamisch oder jung. Seit der der Alleinverdiener ist, hat er sich aufgegeben. Er weiß, dass ich von ihm abhängig bin. Er gibt mir „tollerweise“ Haushaltsgeld.Und lässt mich abrechnen. MICH! Das ist so entwürdigend.Ich bin doch nicht seine Angestellte. Aber „unser“ Geld ist halt knapp, vor allen wegen der teueren Miete und dem Auto-Leasing, von mir aus könnte ich auch in einer Wohnung wohnen und U-Bahn fahren.
Wenn Carsten wenigstens etwas zu erzählen hätte! Aber auf seinem Amt passiert nichts. Nichts, was mich interessiert. Er regt sich über das Kantinenessen auf, so was halt, aber mich interessiert kein Kantinenessen. Mich interessiert, wie ich es hier noch länger aushalten soll.
Bin ich undankbar? Für das kleine Glück, hier in der Münchner Reihenhaussiedlung ? Für einen Mann mit festem Einkommen? Für eine Schwiegermutter, die im Haushalt hilft?
Im Mai werde ich 39 Jahre alt. Und dann ziehe ich Bilanz. Mal schauen, was raus kommt