Beitragsfoto: Glamometer
Lucy ist letztes Jahr 50 geworden, aber das hat sie keinem erzählt. Älter werden ist scheisse in ihrem Beruf als Produktionsleiterin einer Agentur für internationale Werbefilme in Berlin. You have to be young and cool. Das ist Lucy auch. Irgendwie. Noch.
Soeben hat sie ein ausgesprochen unangenehmes Telefonat mit vorzüglicher Hochachtung beendet. Der letzte große internationale Kunde, ein Lebensmittelkonzern aus Holland, hat die Zusammenarbeit beendet. Nach 20 Jahren!
….Ich wollte es Dir vorab persönlich sagen, weil wir ja immer so gut….blablabla…sagte Hanns, der Marketing Geschäftsführer, der die Budgets verantwortet.
So eine Ratte. Was hat Lucy nicht alles möglich gemacht für Hanns, von den ganzen Überstunden, Extrameilen, Wochenenden mal abgesehen, dann die stundenlangen Telefonate, wenn er mal wieder mit seiner Frau Ärger hatte und Lucy sich das alles in epischer Breite anhören mußte, ihm ein Alibi gab. Für IHN hat sie seine Frau angelogen. Hanns war bei mir, ehrlich, das ganze Wochenende Brainstorming….
Hanns, der hinterhältige Arsch, der auf Produktionsreisen immer mit „seinem“ jeweiligen Model ankam! Wieviele Luxusreisen, nein: Love Trips, hat er sich über die Firma finanziert. Seychellen, Mauritius, Bali, sogar bis nach Fiji brachte er seine Geliebten mit, und immer Champagner und hoch die Tassen und Lucy musste das alles decken und schweigen und jetzt hat sie die Quittung dafür.
Lucy atmet ganz laut ein und aus. Jetzt NICHT heulen. Jetzt stark bleiben. Lucy ist immer stark. Du bist eine so starke Frau…. sagen die Kunden immer. Oder die Mitarbeiter. Oder die Männer, wenn sie sich mal wieder von ihr trennen. Lucy, die starke Frau, sie kann das Klischee nicht mehr hören und jetzt schießen ihr doch die Tränen ins Gesicht….
Sie denkt an all den Mist und Müll der letzten Monate, 10 Mitarbeiter musste sie entlassen, dazu der Druck der Kunden, die Kündigungen, die Trennung von Micha, ihrem, ja, was eigentlich…SEX DATE?!… Es ist zuviel denkt sie. Das erste Mal in ihrem Leben denkt sie das. ES IST ZUVIEL.
Keiner soll sehen, dass sie weint. Sie dreht sich auf ihrem Drehstuhl Richtung Fenster, der Blick in die beschmierten Häuserfassaden von Kreuzberg, dem hippen Berliner Kreativ-Bezirk. Kar, dass sie hier arbeitet. In einer Fabriketage, wie es sich gehört. Wo alles jung, lustig, unbeschwert ist. WAR. Es ist ja nicht mehr so. Und wenn sie ehrlich ist: schon lange ist es nicht mehr so, wie es einmal war.
Vor 5 Jahren ging es los, als die Digitalisierung die Werbebranche überrannte. Social Media. Facebook, YouTube, Instagram. Sie hat das unterschätzt. Unsere Kunden wollen seriösen Content. Dachte sie. Doch den Kunden ist der Content egal, sie wollen verkaufen. Ihre Waren an den Mann oder die Frau bringen, und wenn die sich über harmlose Filmchen von minderbemittelten Silikon-Wundern freuen, dann… ist es halt schwer, den Auftraggeber zu überzeugen, dass er einen 100.000 € Spot bestellen soll mit Drehbuch, Regisseur, Kameramann, Tontechniker, Model, Make-up, Stylist, Texter. Wenn er für 10.000 € von einem einzigen Influencer das selbe kriegt. Nicht dasselbe. Schlechtere Qualität. Aber danach kräht kein Hahn mehr.
Lucy hat sich lange gegen die Einsicht gewehrt. Sie hat die Nase gerümpft, Scherze gemacht. Social Media? Nett zum Bildchen austauschen. Aber ERNSTHAFT? Was für eine Fehleinschätzung.
Vor 3 Jahren hat sich Maja, eine ihrer Kontakterinnen, mit einer Social Media Agentur selbständig gemacht. 2 große Kunden mitgenommen. Heute hat Maja 40 Mitarbeiter. Und Lucy keinen Kunden mehr.
Lucy war mal ein richtiges it-Girl. Hat Berlin nach der Wende im Sturm erobert. Sie war in jedem Club auf der Gästeliste, stylte sich schräg und exzentrisch, sie hatte Affären ohne Ende, nahm Drogen und Alkohol, das süße Leben. Ein Stadtmagazin brachte eine Reportage über Lucy, so lernte sie einen Fotografen kennen und über den landetet sie in der Werbung.
Und sie machte Karriere. Sie sah gut aus, hatte Ideen – die Kunden lagen ihr zu Füßen. Dazu ihr cooler Lifestyle, ihre prominenten Affären und der glamouröse Underground Freundeskreis…
Jede Geschichte ist irgendwann zu Ende erzählt. Die wilden Parties…fanden irgendwann nicht mehr täglich statt, sondern nur am Wochenende. Und irgendwann auch nicht mehr jedes Wochenende….und irgendwann stand sie auch nicht mehr auf jeder Gästeliste, denn die Clubbetreiber wechselten und es gab neue, angesagte Clubs und Lucy…..
Wie schnell die letzten 20 Jahre verflogen sind denkt Lucy und lässt ihre Männer Revue passieren. Die Anfangszeit in Berlin, da datete sie richtig krasse Jungs, der eine von der Antifa, Jürgen, der wurde sogar vom Staatsschutz überwacht. Später wurden es Jungs aus dem Nachleben oder DJs.
Lucy hatte eigentlich nie den Wunsch gehabt, eine Familie zu gründen. Die ganze Verantwortung. Der Spieß. Das Bürgerliche. Das war nichts für Lucy. Ich bleibe immer jung und cool. Hat sie gedacht. Geglaubt. Gehofft.
Als sie Vierzig wurde, änderte sich ihr Gefühl in Sachen Familie, Kinder, feste Partnerschaft. Wenn damals der richtige gekommen wäre? Wer weiß. Aber sie datete Chris, damals 25 und aufstrebender Musiker, heute verheiratet, Haus am Wannsee und Produzent.
Sie hätte wenigstens gerne ein Kind gehabt von Chris. Aber…falscher Zeitpunkt. Chris war kein Fehler, eigentlich, er verlängerte ihre Jugend, sie brachte ihm die richtigen Kontakte. Es war ein Tauschgeschäft….das ER nach 3 Jahren beendete. Früher hatte Lucy die Männer verlassen.
Und heute…Tinder Dates, meist harmlos. Sex ja, Liebe nein. Keine Verpflichtung. Ein paar Wochen gehen diese Affären, wenn es gut läuft, wenn nicht, dann tschüß. Micha, das war ihr letztes Tinder Date. Mitte Dreißig. Ober-Proll aus Brandenburg mit Akzent. Aber: Super Sex. Bestimmt hätte sie diese „Beziehung“ noch weiter laufen lassen. Aber der Brandenburger verließ morgens ihr Bett und meldete sich danach nicht mehr. Und reagierte auch nicht auf ihre Messages. Lucy ärgerte sich. Fast mehr über die Art WIE sie verlassen worden war als über die Tatsache dass… Einfach untertauchen.
Lucy fühlt sich alt, unverstanden und ausgebrannt. SO kann es nicht weiter gehen. Wann hören diese negativen Nachrichten endlich auf? Wo ist Licht im Tunnel? Gibt es überhaupt Licht in ihrem Leben?
Lucy lebt das Leben, das sie sich immer erträumt hatte, das coole Kreativen Leben in Berlin. Sie hat erreicht, was sie wollte. Schon vor Jahren. Ihr Leben ist gleich geblieben. Aber die Umstände haben sich verändert. Haben Lucy überholt. Lucy muss etwas ändern. Das wird ihr klar in diesem Moment. Wie es ist, wird und kann es nicht bleiben. Besser ICH gestalte das, sagt sie sich. Ich bin stark. War ich schon immer. Sie schaut wieder aus dem Fenster. Wenn Du glaubst es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her….. Lucy denkt an diese Lebensweisheit und fängt an zu lächeln. Drüben, im Nachbarhaus, gehen gerade die Lichter an. Kurz nach 6, Zeit zu gehen.