Susanne steht in der Küche, es ist eine weiße Ikea Küche im Landhausstil, mit schwarzer Marmorarbeitsfläche, die hat sie extra bestellt, weil es schicker aussieht, aber das tut eigentlich nichts zur Sache, denn Susannes Handy klingelt. CHEMIE steht auf dem Display. CHEMIE klingt neutral, unwichtig, nebensächlich, keiner geht ran, wenn CHEMIE klingelt. Soll auch nicht, denn denn hinter dem Codenamen CHEMIE steckt August, ihre Jugendliebe. Susanne hat ihn an Weihnachten wieder getroffen. Zufällig. Er war in der Stadt, man redete…und redete….und seitdem ist nichts mehr, wie es war. 12 Tage (und Nächte) genügten, um Susannes Heile Welt gründlich aus den Angeln zu heben.
CHEMIE steht auf dem Display, in wenigen Sekunden muss Susanne entscheiden, ob sie ran geht. Wenn sie ran geht, wird das ihr Leben ändern. Sie wird neu starten, wird sich von all den Zwängen lösen, vom Mief der Kleinstadt, vom Korsett der Familie, von allem, was sie schon längst hätte ändern wollen, wenn sie nur mutig gewesen wäre. Geht sie nicht ran? Dann bleibt alles wie es war, ihre Ehe, ihr Haus, ihr Leben, das sooooo schlecht nicht war und die Geschichte mit August bleibt ein süßes Kapitel in ihrem Herzen….Ran gehen? Oder es lassen?
13 Tage vorher, 21.Dezember
Susanne ist froh, dass die Handwerker jetzt endlich fertig sind, zum wievielten Mal waren die schon da wegen den elektrischen Türen an der Garage und im Garten. Jedes Mal beim Öffnen der Tore ein Terz. Jedes Mal wieder anrufen, Warteschleife, Termin machen, da sein…und dann funktionieren die Tore schon wieder nicht. Zusätzlicher Stress kurz vor Weihnachten braucht kein Mensch. Vor allem keine Hausfrau wie Susanne, die ihren „Job“ ernst nimmt. Weihnachtsplätzchen backen, fünf Sorten, Haus dekorieren, Baum kaufen, Geschenke für 3 Kinder, Mann, Eltern, Großeltern, die Freundinnen, die guten Geister, vom Müllmann über den Briefträger bis zur Klavierlehrerin der jüngsten Tochter, den Fußball Trainer vom Sohn…. es nimmt kein Ende und die Zeit rast vor Weihnachten immer ganz besonders schnell und Klaus, ihr Mann, ist nur noch schlecht gelaunt und gestresst von dem Knochenjob im Krankenhaus, und keine Hilfe. Im Gegenteil. Klaus…. ach jeh, für Klaus braucht sie noch eine Kleinigkeit, man hat zwar verabredet sich nichts zu schenken. Der Kredit fürs Haus…. da sind große Sprünge im Moment nicht drin. Früher waren sie zweimal im Jahr im Urlaub, im Sommer ging es nach Elba und im Winter nach Österreich zum skifahren. Immer ins gleiche Hotel, 4 Sterne, die Angestellten kannten die Kinder beim Namen und sie, Susanne, wurde mit Frau Doktor angesprochen, denn Klaus ist Arzt. Radiologe. Am städtischen Krankenhaus.
Man ist wer in der Stadt. Gehört zu den besseren Kreisen. Das war immer der Wunsch ihres Vaters. Susannes Vater ist Polizist und hat sich für seine einzige Tochter etwas „Besseres“ gewünscht. Sie sollte Abitur machen, einen guten Mann heiraten, ein eigenes Haus besitzen, nicht wie er und Susannes Mutter in einer 50qm großen Gemeinde-Wohnung leben. Und Susanne performte. Sie war fleißig, gut in der Schule, sie war hübsch, sie war brav. Sie machte ihr Abitur mit 1,8 und wollte BWL studieren, aber ihr Vater war dagegen. Studium, das war nichts festes. Unsicher. Sie sollte erst mal eine Ausbildung machen, studieren könnte sie ja immer noch. Und so machte Susanne eine Lehre als Bankkauffrau, die sie glänzend abschloß, aber danach, da kam kein Studium, sondern die erste Tochter, Celina, es war nicht geplant, aber Klaus studierte Medizin, seine Eltern betrieben einen gut gehenden Schreibwarenladen am Goethe Gymnasium, er war eine „Partie“ in den Augen des Vaters und so heirateten sie noch vor Celinas Geburt, sie war im 5. Monat, und keiner ahnte was, denn der Bauch war flach und unauffällig.
Eine Kleinigkeit für Klaus, vielleicht ein paar lustige, bunte Sportsocken. Klaus trug in der Klinik immer bequeme Gesundheitsschuhe, in denen man die Socken sah. Weihnachtssocken, das wäre was, dachte Susanne und fuhr mit dem Fahrrad Richtung Innenstadt.
Sie sah ihn von weitem. Er stach aus der Menge heraus. In ihrer Stadt tragen die Männer braune Sportjacken und graue Cargo-Hosen, alle sehen gleich aus, gleich graubraunlangweilig. Sie sah zuerst den camelfarbenen Blazer-Mantel, ein vornehmer MANTEL, aus feiner WOLLE, man sah, dass das ein ganz teuerer Mantel war, aber er war nicht spießig, sondern…cool, denn dazu trug der Typ verwaschene Jeans, richtig verwaschen, lässig, und dazu Turnschuhe, wie sie Teenager tragen und auf dem Kopf hatte er eine rote Strick-Mütze ….
„Sus!“ Rief der Typ ihr zu. Sus mit langem U und scharfem S. Ihr Spitzname in der Schule. Sie wusste sofort, wer er war. „Impi! Mein Gott, Impi! Was machst Du denn hier?“
Susanne fühlte den Blitz im Magen, ein Zucken im Arm, Nervenbahnen, die pulsierten, sie wurde rot.
„Impi“, Kurzform von Imperator, Spitzname von August, der so hieß, weil August ein unmöglicher Name war und man in Latein gerade Kaiser Augustus durchnahm, als Impi-August zu ihnen aufs Gymnasium kam. Er war Boy 1, SOFORT, er war der Typ in den sich alle Mädchen verliebten, er sah so mega aus mit den blonden Haaren, die er kurz geschoren hatte wie ein Skinhead, aber er war kein Skinhead, er war bei der Antifa, erzählte man sich, und man erzählte sich auch von Drogen und von anderen Skandalen und Geschichten, die ihn nur noch spannender machten. Seine Mutter war frisch geschieden, allein erziehend und neu in der Stadt und weil man ein großes Haus bezog, aber sie keiner ersichtlichen geregelten Arbeit nachging, überschlugen sich die Gerüchte.
August war von Anfang an anders, als die andern Jugendlichen in der Stadt und deshalb für viele ein rotes Tuch. Er trug Großstadtklamotten, kein Wunder, er kam ja auch aus Hamburg, aber es war nicht nur das, er war auch geistig weiter entwickelt als Susannes Freunde, immer eine Umdrehung schneller im Kopf, lustig, eloquent, er war politisch interessiert und total rebellisch. August ließ sich von niemandem etwas sagen. Schon gar nicht von den Lehrern, mit denen er sich oft anlegte und Paroli bot. Susanne hätte sich das nie getraut. Sie war die brave Tochter. Aber mit August wurde sie anders. Sie wurde mutiger, selbstbewußter. August gab ihr das Gefühl die Welt erobern zu können – und das wollten sie auch. Zusammen die Welt erobern.
Jede freie Minute verbrachten sie miteinander, sie hatten Sex, die ganze Zeit Sex, aber sie redeten auch viel, führten tiefsinnige Gespräche, eine typische Teenagerliebe. Nein, es war keine typische Teenagerliebe, es war mehr. Es war die Chance für Susanne sich zu einer eigenständigen Persönlichkeit zu entwickeln, zu emanzipieren von der übermächtigen Kontrolle des Vaters. Aber das alles weiß man ja nicht, wenn man 16 ist.
Susannes Vater witterte den „schlechten Einfluss“ und verbot ihr dem Umgang mit August. Er machte ihr Szenen, brüllte sie an, erteilte ihr sogar Hausarrest. Ihre Mutter weinte dann immer und machte Susanne noch ein schlechteres Gewissen. Denn Susanne hörte nicht auf die Eltern. Sie traf Impi heimlich. Im Haus von August Mutter. Susanne fühlte sich wohl und willkommen dort, es war ein cooles Haus mit modernen Möbeln und Kunst an den Wänden und August hatte zwei eigene Zimmer, sogar ein eigenes Bad. Die Mutter war Journalistin, reiste viel und ließ August alleine, er kriegte das ganz gut hin, er konnte sogar kochen, und so zog Susanne quasi zu August. Heimlich. Sie fühlten sich wie ein Ehepaar, es war eine herrliche Zeit. Es endete, als August ins Internat kam. Seine Mutter sollte noch größere und längere Reportagen machen, auch im Ausland. Zudem war August in der Schule mittlerweile grottenschlecht geworden und versetzungsgefährdet.
Mitten im Schuljahr kam August auf ein Schweizer Internat. Es ging schnell, sie schwörten sich ewige Liebe…und verloren sich aus den Augen.
Und jetzt ist er wieder da. Impi, immer noch Impi. Nur älter, erwachsen, 38 Jahre alt, die blonden Haare trägt er lockig und lang, wie ein Rockstar, aber nicht nachlässig, sondern schick, irgendwie… Susanne sieht es, sie sieht es an seinen ausgefallenen Klamotten, an seiner Körpersprache, an seiner Ausdrucksweise, seinem Lachen. Impi hat es geschafft im Leben. Er führt, das weiß sie genau, exakt das Leben, von dem SIE immer geträumt hat.
Kann man 20 Jahre vergessen? Da anfangen, wo man aufgehört hat? Susanne spürt es, die Chemie stimmt noch immer. Sie erzählen sich im Schnelldurchlauf ihr Leben. August machte sein Abi in der Schweiz, ging zum Studium nach London, gründete in New York ein Startup, machte pleite, ging nach Berlin, gründete nochmal, hat eine Agentur für Online Marketing mit 80 Mitarbeitern und Büros in Zürich, Wien und Hamburg. Er hat sich vor kurzem von seiner langjährigen Freundin getrennt, einer Chinesin, die er in New York kennen lernte, und ist in der Stadt, weil es seiner Mutter gesundheitlich schlecht geht und man das schlimmste befürchten muss. Und das kurz vor Weihnachten!
Susanne erzählt von ihrer Ehe mit Klaus, der eingeschlafenen Ehe, den drei Kindern, dem Kredit fürs Haus, dem Haus, dass sie von Klaus Eltern bekamen, als deren Schreibwarenladen nicht mehr lief, das Haus, dass sie nie wollte und jetzt für viel Geld grundsaniert und umgebaut hat, dass sie nicht berufstätig ist und dass etwas in ihrem Leben, dass doch so stressig ist – fehlt. „Mir fehlt auch was“ sagt August. Er fühlt sich wie ein Getriebener, Heimatlos, er sehnt sich nach einem Ruhepol, nach einem zuhause. Die Chinesin, eine tolle Frau, aber kulturell eben….anders, das hat dann doch nicht gepasst…auf Langstrecke, er hat eigentlich alles, Geld, Status, Agentur-Miezen Anfang 20, mit denen er ins Bett geht, aber eigentlich will er lieber, ja was eigentlich….
Susanne schaut auf die Uhr, es ist kurz vor 5, mein Gott, 3 Stunden haben sie gequatscht, erst auf der Straße, dann im „Irish Pub“, ihrem ehemaligen Schülertreff. Susanne könnte noch ewig reden, sie fühlt sich zum ersten Mal seit langer Zeit locker und ehrlich. Sie sagt alles, wie es ist, wie SIE es WIRKLICH fühlt. Sie beschönigt nichts, sie fühlt…Leben. Um 5 kommt die Älteste vom Spanisch Kurs, da muss sie eigentlich daheim sein, egal, denkt Susanne, ist jetzt mal echt egal, ich bin ja sonst IMMER da, sie quatschen weiter, und weiter und als Susanne 5 Minuten später auf die Uhr sieht, ist es kurz vor 8. Panik, Aufbruch, auch August muss heim zur Mutter, der Pflegedienst kommt. Sie sehen sich kurz in die Augen, August fasst ihre Hand, freundschaftlich, sagt: „Morgen wieder hier?“ Susanne sagt. „Ich ruf Dich wegen der Uhrzeit an, gib Deine Nummer.“ Und dann notiert sie seine Nummer, und als würde sie ahnen, was kommt, speichert sie alles unter „CHEMIE“
Lesen Sie morgen wie es mit Susanne und August weiter geht….