Sandra schaut aus dem Fenster, hier, im ersten Stock vom McDonalds Restaurant am Münchner Stachus blickt man hinunter auf den geschäftigen Karlsplatz mit seinen Menschenmassen, den belebten Rolltreppen, Aufzügen und U-Bahn-Eingängen, der feine Nieselregen geht jetzt in feine Schneeflocken über und der Himmel ist grau und es dämmert.
Ein Klischee, denkt Sandra, was für ein Klischee, an so einem Tag, an so einem Ort, seine Rache zu nehmen für eine Beziehung die den Namen nicht wert ist.
Was ist heute überhaupt noch etwas wert? Liebe? Freundschaft? Aufrichtigkeit? Und: war es DAS wert, was Sandra der Frau ihres Ex-Geliebten an getan hat, ihr reinen Wein ein zu schenken, ihr die Augen zu öffnen über das geheime Zweitleben ihres ohsovorbildlichen Gatten?
Die Schneeflocken vor dem Fenster werden dichter, sie tanzen im Schein der zahllosen Lichter und Neonlampen und Leuchtreklamen, der McDonalds ist fast leer, hier oben, im ersten Stock sitzen ein paar Teenager über einer Cola und geniessen ihr freies Internet. Ein anonymer Ort, Niemandsland, der richtige Ort für eine finale Aussprache wie diese. Sandra denkt an Wolf, ihren Geliebten, den Ehemann der Frau, die jetzt still, zusammengesackt und ausdruckslos neben ihr sitzt.
Als die Frau, Kathrin, vor zwei Stunden hier an den Tisch trat, wußte Sandra sofort, dass Wolf ihr mal wieder eine Lügengesichte aufgetischt hatte. Kathrin war definitiv nicht die eingebildete Ziege, die gefühlskalte Ehefrau und die überforderte Mutter, die Wolf immer beschrieben hatte. Sie war eine anständige Frau mit langen braunen Haaren und wachen grünen Augen, ein bißchen schüchtern und vorsichtig und auch ängstlich und nervös, kein Wunder. Sie hatte die lässige, schlaksige Silhouette einer 800m Läuferin mit langen Gliedern und schmalen Hüften. Eine attraktive Frau in neu gekauften Ugg-Boots und einer grünen Woolrich Daunenjacke. Eine Frau, mit der man gerne befreundet wäre.
Aber so….wird man sich bald von einander verabschieden. Man wird sich nie mehr sehen, nie mehr sprechen, nie mehr telefonieren und keinen Kontakt mehr haben. Und doch wird diese Begegnung das Leben beider Frauen ein für alle mal in eine andere Richtung gezwungen haben. Nach diesem Gespräch ist nichts mehr wie es war.
Weihnachten vor einem Jahr war auch nichts mehr wie es war. Sandra saß in ihrer Zweizimmerwohnung in Oberföhring und wartete, dass Wolf sie abholte, er kam vom Flughafen, man wollte an den Tegernsee zu einem romantischen Wochenende. Um 7 hätte Wolf landen sollen, danach wollte er gleich kommen. Sandra saß mit gepacktem Koffer da und wartete. Und wartete. Er wird Verspätung haben, dachte sie am Anfang. Um 8 Uhr fing sie an, ihn anzurufen. Das Telefon klingelte durch….er wird es nicht hören, gerade bei Sixt am Counter stehen…20.15 Uhr….20.20 Uhr…20.25 Uhr….minütlich rief sie an, um 9 Uhr wurde sie nervös, hinterließ SMS, WhatsApp, checkte Facebook und Mails…..nichts.
Was macht man als Geliebte, wenn der Liebhaber einfach nicht zum Rendezvous erscheint? Man kann ja nicht bei seiner Gattin anrufen. Oder doch? Um 11 fuhr Sandra zum Flughafen, vielleicht war er ja dort, ohne Handy, ohne Geld, in Not. Doch nichts… der Münchner Airport, menschenleer – gespenstisch wie….die Situation, in der sich Sandra befand, komplett überfordert, ratlos, verzweifelt. Sie fuhr zurück nach Oberföhring, schaute nach, ob er vielleicht da gewesen war und einen Zettel hinzerlassen hatte im Briefkasten….nichts.
Tegernsee! Sie rief im Hotel an, ob er schon eingecheckt hatte und hörte als Antwort den umbarmherzigen, kurzen und kappen Satz, an den sie sich ihr Leben lang erinnern wird: der Herr Doktor hat heute Nachmittag das Zimmer storniert……
Sandras Herz blieb in dieser Sekunde stehen, es zog ihr den Boden unter den Füßen weg. Sie wußte, dass etwas passiert war mit ihrer Beziehung, dass Wolf sie….ja, was….Panik….Herzrasen….nochmal seine Nummer wählen und noch mehr Nachrichten hinterlassen, nichts, nichts, warum antwortete Wolf nicht, was ist denn los?????
Sie googelte Wolfs Telefonnummer bei ihm daheim in Frankfurt, nachts um 4 noch anrufen, egal, vielleicht war ja doch etwas passiert, eine letzte Hoffnung, sie wählte die Nummer….nach einer Weile meldete sich eine verschlafene Frauenstimme, Kathrin…. Sandra legte auf ohne etwas gesagt zu haben. Was hatte sie erwartet? Dass Wolf sich melden würde? Hallo Liebes, alles gut?!
Also dann, sagt Kathrin jetzt und schaut Sandra lange und durchdringend an. Sie steht auf, langsam und unsicher. Auch Sandra steht auf. Ihr Kaffeebecher ist noch viertel gefüllt, sie nimmt den letzten Schluck im Stehen. Sie fühlt sich….leer. Leer und ausgebrannt, fertig. Nein, sie fühlt sich nicht wie eine Siegerin. Wie eine strahlende Gewinnerin. Wie eine Frau, die triumphiert. Ihr ist jetzt klar, dass es keine Gewinner gibt, sondern nur Verlierer.
Und am allermeisten verloren hat Kathrin. Die Ehefrau, die eigentlich gar nichts gemacht hat. Die nichts dafür kann. Für ihren untreuen Ehemann. Ihr Leben, ihre Familie, ihr schöner Schein – alles am Ende. Desillusioniert. War es das wert?
Sandra zieht sich ihren grauen Wintermantel über, ein eleganter Wickelmantel aus luxuriösem Doubleface, sie hat ihn letztes Jahr gekauft, für Wolf, sie wollte für ihn elegant, luxuriös und kosmopolitisch aussehen nach ihrer Wiedervereinigung im Januar, als sie ihm verzieh, dass er sie einfach hatte sitzen lassen, einfach nicht gekommen war, dass er ihre Anrufe weg gedrückt hatte, später sein Handy ausstellte, als er sie – nach Weihnachten und Silvester, nach 3 langen zehrenden Wochen – mit roten Rosen überschüttete, mit Liebesschwüren, mit stündlichen Anrufen, mit begehrlichen SMS-Nachrichten, als plötzlich ein Kurier von Feinkost Käfer bei ihr im Büro stand und ihr diesen wundervollen Korb überreichte mit einer Magnum Flasche Dom Pérignon Jahrgang 1990 darin und einer 500 Gramm Dose Sevruga Kaviar sowie einer goldenen Karte: Freitag, 19 Uhr bei Dir….
Da fing alles wieder an. Was wäre wenn…denkt Sandra als sie Kathrin betrachtet, während sie vor ihr langsam zur Treppe läuft… was wäre wenn, Sandra damals nicht aufgelegt hätte, wenn sie erfahren hätte, das Wolf nicht zuhause war, wie er später behauptet hatte, wenn sie gewußt hätte, was sie heute weiß…..