In meinem langen beruflichen Leben habe ich unzählige Karrieren begleitet. Es ist erfüllend, junge Talente zu entdecken und zu entwickeln. Das war schon bei meinem ersten Job so.
Die „Avantgarde“ war eine Publikumsmesse für Nachwuchsdesigner. Junge, internationale Talente konnten sich bewerben und wurden entsprechend ausgewählt. Aber exakt am letzten Tag der Abgabefrist platzen regelmäßig die Wasserrohre der armen Schneiderlein, wahlweise raubten Diebe die Ateliers aus, verlor die Post ausgerechnet DIESES Paket oder man wollte die Kollektion WIRKLICH persönlich bringen, doch plötzlich passierte folgendes….kurzum, die Ware traf nicht zum vorgeschriebenen Zeitpunkt ein.
Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit sind Eckpfeiler einer beruflichen Laufbahn, auch wenn es spießig klingt. Talent allein genügt nicht. Im Laufe meines Berufslebens begegneten mir unendlich viele Begabte. Junge Menschen mit Kreativität und Vision, mit Ausstrahlung und Ideen. Doch was ist ein Idee ohne konsequente Umsetzung? Eine Flause!
Die „Avantgarde“ Messe war damals ein Sammelsurium von Verrückten, ich erinnere mich an die ultracoole, kettenrauchende Isabel Marrant, an Dries van Noten und Ann Demeulemeester, die damals noch „Gang of Six“ hießen und natürlich an Vivienne Westwood. Große Namen, top Karrieren.
Aber die Mehrheit der vielen vielen Jung-Designer – verschwunden im November Nebel….
Auf dem Weg ins Rampenlicht begehen hoffnungsvolle Talente immer wieder die gleichen, oft unnötigen Fehler. Neben Hard Facts wie Pünktlichkeit sind oft auch die Soft Skills erschreckend dürftig.
Meine „To NOT Do“ Liste, aus aktuellem Grund
Niemals unzuverlässig sein, Vertrauen zurück spielen
Ein junger, hochtalentierter Fotograf kam mit uns, dem Instyle Team, nach Paris um den Streetstyle der Redakteure und Influencer einzufangen. Wir hatten zusammen ein paar kleinere Aufträge geshooted und ich war begeistert von dem coolen Look & Feel der Fotos. Es war exakt der Zeitgeist, den ich mir für das Heft gewünscht hatte. Die Pariser Pret-a-porter ist natürlich Champions League und nicht München, ich wollte den jungen Mann, gerade mal Anfang 20, nicht überfordern und schickte ihn drei Tage in die „Lehre“ bei Adam Katz-Sinding einem der renommiertesten Streetstyle-Fotografen der Welt. Der Münchner begleitete den Star-Fotografen quer durch Paris, lernte seine Tricks und Kniffe kennen, die schnellen Wege von Show zu Show, die Namen den Models und relevanten Influencer, kurzum, die „Ausbildung“ war für ihn ein Vermögen Wert – und ging auf unsere Payroll. Der wichtige Termin, SEIN Termin, war die Louis Vuitton Show im neu eröffneten Headquarter im Bois de Boulogne, morgens um 10 Uhr. Er sollte sich vor Ort mit unserer eigens eingeflogenen Textredakteurin treffen, die ab 9 Uhr da sein würde. Ankunft der Gäste, Show, After Show und Backstage, alles sollte in Text und Bild festgehalten werden. Louis Vuitton ist die einzige Show, die religiös pünktlich beginnt, dass schärfte ich dem Fotografen mehrmals ein, und ich so setzte ich mich 9.30 Uhr ins Auto…. ringringring….
Nachwuchsfotograf: Du Netti, wann ist die Show nochmal?
Ich: ..Das steht doch auf deiner Akkreditierung!? Wo bist Du denn um Himmels willen??? Noch nicht vor Ort??? Die Textredakteurin steht doch schon da???!!!
Nachwuchsfotograf: Ich bin noch im Hotel, ich bin letzte Nacht ausgeraubt worden, kannst Du mir Geld leihen, ich hab‘ nämlich keins mehr und kann das Taxi nicht zahlen..
Ich: Und das fällt Dir JETZT erst ein??? Moment, es klingelt auf der anderen Leitung….
Textredakteurin, heulend: Alle sind schon da, Kim Kardashian und Michelle Williams, Anna Wintour und Giovanna Battaglia…und ich kann weder Interviews machen noch Fotos, der Fotograf fehlt und hat die Akkreditierungen…
Um es kurz zu machen, mit Handy-Fotos, guter Laune und Improvisationsgeschick stellten wir doch noch eine okaye Story auf die Beine. Dem Fotografen schickte ich meinen Fahrer, zur Chanel Show, er kam on Time, aber schickte die Fotos nicht rechtzeitig zum Abgabetermin, einmal unzuverlässig, immer unzuverlässig, es ist ein roter Faden. Und es ist leider keine Ausnahme, ich hoffe, die aktuell Gemeinten lesen diese Geschichte hier!! Und ein P.S.: Paris, Vuitton und Chanel sind immer noch der „Fame to claim“ des hoffnungsvollen Fotografen, der bei irgendeiner McWerbeagentur als Praktikant anheuerte und schon zweimal das Studienfach wechselte. Und von wegen „ausgeraubt“…der angebliche Überfall in Paris war einfach nur eine durchzechte Nacht, wie ich später erfuhr..
Sich selbst richtig einschätzen und nicht überschätzen. Wenn Du (nur) einen Schuss hast, dann muss der sitzen!
Ich erinnere mich an eine begabte Taschen-Designerin, die uns anflehte, ihre wirklich hübschen Produkte zu zeigen. Sie war blutjung und gerade mit der Modeschule fertig und es war ihr erste Kollektion. Ich war zögerlich, fragte sie nach möglichen Stückzahlen und ihrer Produktion. Kein Problem, sagte sie, alles im Griff. Ich ließ mich also überreden, die Taschen kamen ins Heft. Doch als die Nachfrage losging, war die Nachwuchsdesignerin nicht mehr in der Lage die gefragte Stückzahl zu produzieren und auszuliefern. Der Ansturm wurde so groß, dass sie schließlich das Telefon aushängte und ihr Atelier für ein paar Wochen schloss. Den Shitstorm dafür bekam ich ab. Die Leser beschwerten sich scharenweise über dieses unprofessionelle Mode-Label, welches wir da in unserem Heft präsentiert hatten. Zwei Jahre später meldete sich die Taschenfrau tatsächlich nochmal und wollte wieder eine Veröffentlichung. Dazu kam es natürlich nicht. Eine gebrannte Chefredakteurin….gibt keine zweite Chance. P.S.: Die Designerin ist heute Yoga Lehrerin.
Nicht arrogant sein, nicht überheblich. Spiel keine Rolle. Sei nett und freundlich und Du selbst!
Bunte Kaschmirpullover aus nachhaltiger Produktion, na gut, das ist keine Weltsensation, aber das Mail des Fashion Startups war nett und weil ich ein Herz für junge Designer habe, sagte ich zu, lass treffen, ich schaue mir das an, und dann machen wir was auf Glamometer. Die Designerin kam mit einem Haufen zerknitterter Pullover und Jacken. Manche schon relativ abgetragen. Na gut. Es waren durchschnittliche und gewöhnliche Teile für horrendes Geld, bei Zara oder H&M zu einem Bruchteil erhältlich, aber hier ging es ja um Nachhaltigkeit. Na gut. Wir führten ein „Interview“. Ich wollte das Label schließlich auf unserem Blog vorstellen. Die Designerin trat recht selbstbewußt und forsch auf, eine Großsprecherin (..ich war auch schon bei der amerikanischen Vogue) und eigentlich unsympathisch, aber na gut, vielleicht war sie nur nervös. Wir fotografierten die Pullover am gleichen Tag, wir hatten zufällig ein Shooting für einen Werbekunden und schossen die Pullis gleich mit. Am nächsten Morgen klingelte es Sturm, die Designerin: wo bleibt die Ware??? Na gut, vielleicht wußte sie ja nicht, dass es normalerweise wesentlich länger dauert, bis ein Shooting für viel Geld auf die Beine gestellt ist… sie kam dann persönlich vorbei und zeterte:
Designerin: Du, nur damit Du es weißt, ich möchte das Interview autorisieren!
Ich: Autorisieren? Was willst Du denn autorisieren? Ich schreibe einen Bericht über Dein Label, das ist kein Interview, das ist ein Bericht. Eine Art Portait. Das kann man doch nicht autorisieren, da sind doch keine Zitate drin!?
Designerin: Wenn es mir nicht gefällt, musst Du es umschreiben!
Ich: Du weißt aber schon, dass ich eine erfahrene Autorin bin und DIR einen Gefallen mache???
Designerin: Alle lassen ihre Texte autorisieren.
Nicht mehr na gut. Das war es dann. Blöde Kuh. Unwissend und hochnäsig. Die Fotos mit ihren Pullovern kamen nie auf unser Instagram Profil und falls mich mal ein Einkäufer nach ihr fragen sollte…. es fragt aber keiner. Seltsam?!
Der Verlierer nimmt alles. Nur nehmen ist falsch, es ist ein nehmen UND GEBEN!
Der junge österreichische Modeschöpfer entwirft wunderschöne Lederhosen. Aus butterweichem Handschuhleder in fantastischen Farben und coolen Schnitten. Wir kennen uns seit 3 Jahren, ich habe ihn immer wieder unterstützt, seine Produkte gezeigt oder auf irgend einem roten Teppich getragen. Er hat mich darum gebeten. Ich mache das gerne und schicke die Hosen immer wieder zurück, ich besitze keine Hose von ihm. Der Nachwuchsdesigner kommt alle paar Wochen nach München und lade ich ihn zum essen ein. Er liebt schicke Restaurants. Er sucht sie aus. Ich zahle immer. Er hat mich noch nie eingeladen. Er mag auch interessante Menschen kennen lernen. Ich habe ihm diverse Leute vor gestellt, einflußreiche Leute, die Kontakte hat er gerne genommen. Er hat mir noch nie jemanden vor gestellt. Im Juli schleppte ich ihn auf Sardinien auf eine tolle Party mit, er war zufällig auf der Insel und schrieb mich über Instagram an. Ich trug an dem Abend eine Bikerhose aus Leder (nicht von ihm), die bei der Party leider kaputt ging. Ich bat ihn, die Hose zu richten. Er hat ja Leder-Atelier. Die Hose kam vor 4 Wochen. Mit einer Rechnung von 120 Euro! Hab die Rechnung sofort bezahlt und mir dachte mir: nie mehr wieder! Warum soll ich Dich pausenlos einladen, Dich unterstützen und featuren und wenn ich mal etwas möchte, hältst Du die Hand auf?!
Auf Rechte pochen, unflexibel sein
Mein Sohn war ein noch Baby und sein Kindermädchen fiel kurzfristig für den Vormittag aus. Kein Problem, dachte ich, nimmst Du ihn mit in die Redaktion. Um 10 war die tägliche Redaktionskonferenz, die wollte ich ungestört abhalten und bat eine unserer Praktikantinnen um Hilfe.
Ich: Würden Sie netterweise mit dem Julius ein halbes Stündchen in der frischen Luft spazieren gehen, dann mache ich schnell die Konferenz…
Praktikantin: Tut mir leid, das gehört hier nicht zu meinen Aufgaben!
Ich..schluckte….atmete durch: Da haben Sie natürlich vollkommen Recht!
Dann ließ ich unsere zweite Praktikantin kommen, die übernahm den „Job“ mit Freude, ging mit dem Kind eine Stunde spazieren und brachte ihn seelig schlafend zurück. Sie hatte instinktiv verstanden, was für eine riesige Entlastung sie mir und der Redaktion gebracht hatte. Die tüchtige Praktikantin wurde bald Volontärin und brachte es zur stellvertretenden Ressortleiterin. Die rechthaberische Praktikantin hatte sich Gedanken gemacht und schlich am selben Nachmittag in mein Zimmer.
Praktikantin: Ich möchte noch einmal mit Ihnen reden.
Ich: Aber ich nicht mit Ihnen.
Praktikantin: Aber ich wollte nochmal…
Ich: Babysitten gehört nicht zu Ihren Aufgaben. Sie hatten Recht und deshalb haben wir uns nichts mehr zu sagen.
Der Praktikantin schossen die Tränen in die Augen, sie kam am nächsten Tag nicht mehr zur Arbeit und kündigte. Ich glaube sie arbeitet jetzt bei der Stadtverwaltung in Köln.
„Anleitung zum Unglücklichsein“ war in den 80er Jahren ein Standardwerk von Paul Watzlawick, in dem es um kleine, triviale „Fehler“ des Alltags ging und wie man sie vermeiden kann. Hier geht es um soziale Kompetenz am Arbeitsplatz. Kleinigkeiten können so viel entscheiden!
Und es geht ja nicht nur um die große Karriere. Was ist das überhaupt? Wann fängt eine „große“ Karriere an? Und macht sie überhaupt glücklich? Es geht hier um ein faires, ehrliches und freundliches Miteinander. Es ist ein Appell: das Leben ist voller Optionen, nehmt die, die für Euch WIRKLICH passt. Go for Gold, aber nimm (nur) das, was Du wirklich tragen kannst und tragen möchtest.
Fotoquelle: Instagram
Unglaublich gut beobachtet, unglaublich wahr, unglaublich gut.
Wusste bislang nicht, wie ähnlich sich die Modebranche und die Juristerei sind…
Ehrlich und mal aus einem anderen Blickwinkel dargestellt! Ich dachte immer, Sie wären die Anna Wintour von Deutschland, unterkühlt und distanziert. Wie sehr ich mich geirrt hatte, dafür muss ich mich liebe Frau Weber fast entschuldigen. Und gerade diese Leute, die Sie beschrieben haben, sind diejenige, die dann irgendwelche Geschichten erzählen, gibt‘s wohl und leider in jedem Job.
…wie man in den Wald hineinruft – so schallt es zurück!
Liebe Grüße -btw ich liebe, liebe, liebe Ihr BUCH!!!!
xo Tanja Bock
http://www.tanjabock.com
Toller Artikel!!
Danke!! Das freut uns. Lieben Gruß Annette
Auch ich dachte bisher, Sie seien durchaus mit Anna Wintour vergleichbar, liebe Frau Weber. Dieser Artikel hat meine Meinung komplett revidiert, so authentisch und symphatisch geschrieben! Auch Ihr Buch finde ich fantastisch und ich hoffe auf eine
weitere Lesung in Frankfurt!
Alles Liebe
Doris
Liebe Doris…you made my DAY!!! Lieben Dank für diese unglaublich netten Worte, herzlichst Annette