Ich mag Sissi, das ist ja das Problem. Sissi ist die netteste und lustigste Kollegin, die man sich nur wünschen kann. Wir sitzen zusammen in einem Büro, wir verbringen die Mittagspausen miteinander und gehen abends auch mal auf Drinks.
Sissi und ich sind das Marketing Team einer Modeschmuck-Firma, es ist eine „junge“ Firma, ohne spießige Hierarchien. Im Grunde macht jeder alles, es ist kreativ, macht Spaß und unsere Chefs sind total supportive.
Alles könnte so schön sein….
….wenn Sissi nicht lügen würde.
Es begann mit kleinen Notlügen. Zu spät gekommen, weil der Bus weg war. Und abends fuhr sie mit dem Fahrrad heim, das vorm Büro stand. Unseren Designer nicht erreicht, weil der im Ausland verreist ist. Dabei lag er krank im Bett. Neues Kleid gekauft bei Gucci. Dabei steht Zara im Etikett. Unnötige Sachen.
Am Anfang dachte ich noch, dass ICH falsch lag. Dass ICH mich täuschen würde. Dass ICH wohl etwas verwechselt hätte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Sissis Lügerei pathologische Züge annehmen würde.
Ihre ständige Unpünktlichkeit hatte immer irgend einen dramatischen „Grund“. Wasserrohrbruch, Mutter im Krankenhaus, Unfall auf dem mittleren Ring, Feuerwehreinsatz – irgendwann ahnt man ja, dass da was faul sein muss, SOVIEL Pech?! Und immer am Montag Morgen? Aber solche Notlügen – dachte ich – sind ja nicht sooo schlimm. Und schaden auch keinem. Oder?
Die erste „größere“ Lüge flog auf, als Sissi eine Präsentation auf Englisch vorbereiten sollte. Mein Englisch ist ganz okay, aber nicht so gut wie das einer Muttersprachlerin, die Sissi ja quasi ist, denn sie hat in London schließlich Modedesign studiert. Sagte sie jedenfalls.
Aber ihre Texte waren so derartig schlecht und fehlerhaft, dass ich erschrak. Da waren nicht einmal Grundkenntnisse vorhanden. „Das kannst Du so nicht abgeben“, sagte ich Sissi und überarbeitete ihr alles in einer Nacht und Nebel Aktion bei mir daheim am Computer unter der kräftigen Mithilfe meiner Mitbewohnerin aus Australien.
Sissi gab die Mappe ab – und ich hörte nicht nichts mehr davon. Zumindest nicht von ihr. Aber von meinem Chef. Der unterhielt sich auf dem Gang mit unserer Assistentin und ich schnappte im Vorübergehen folgenden Dialog auf:
Assistentin:
… internationale Kunden?
Chef:
…soll Sissi auf englisch texten, genau wie ihre letzte Präse, die war ja Hammer.
Assistentin:
Sissi hat in Harvard Literatur studiert, deshalb!
Chef, ungläubig, aber erfreut:
Wirklich!?
Ich dachte, ich hätte mich verhört. Sissi in Harvard studiert? Auf dieser besten aller Elite Universitäten??? Und warum arbeitet sie dann bei UNS? In dieser kleinen Klitsche??? Und WANN hat sie denn da studiert? Nach London? Oder davor? Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, vielleicht hatte sich unsere Assistentin ja verhört und weil ich selber im Stress war, vergass ich Thema.
Bis zur nächsten Präsentation. Die übergab mir Sissi direkt OHNE Vorarbeit – sie meldete sich nämlich krank und so übernahm ich ihre Texte und schrieb wieder mit Hilfe meiner WG-Partnerin eine brauchbare Präsentation im Namen von Sissi. Na gut.
Schulabschluß. Sissi behauptet, dass sie Abitur gemacht hat. Aber ihre peinlichen Bildungslücken sprechen eine andere Sprache. Und als ich sie nach ihren Leistungskursen fragte, kamen seltsame und ausweichende Antworten.
Angeblich gehörte ihren Eltern eine große Kunstsammlung. Sie sei damit aufgewachsen. Aber dann wußte sie nicht, wer Gustav Klimt war.
Stammgast sei sie im Prinzencafé, das ist ein angesagter Club, aber als wir zusammen hin gingen, kannte sie die Türsteherin nicht…
Das alles waren keine schlimmen Sünden. Vielleicht waren ihre Stories ja doch…irgendwie…halb wahr…doch dann
…kam ein echter Klopper. Wir sollten ein Fotoshooting auf die Beine stellen, um unsere Halsketten zu promoten. Sissi nahm den Job quasi an sich, ich habe doch Mode studiert sagte sie, ich habe da Erfahrung. Aber irgendwie klappte alles nicht so recht. Es fing mit dem Budget an, dass sie viel zu niedrig angesetzt hatte. Ein Model für 100 Euro am Tag, Fotograf für 200 Euro am Tag? Wo gibts denn das? Und die Studio-Miete hatte sie ganz vergessen, genau wie einen Haar-und Make-up Stylisten. Das fiel uns aber erst am Shooting Tag auf.
Das Shooting selbst verlief chaotisch und unorganisiert, aber mit Humor und guter Laune brachten wir lustige Fotos zustande. Nur im Nachgang gab es wieder Ärger. Sissi stritt sich mit dem Fotografen über die Kosten der Bildbearbeitung, der Fotograf sagte, so etwas sei nicht in seinem Honorar inbegriffen. Insgesamt hatte die Fotoproduktion statt der geplanten 1000 Euro fast 5000 Euro gekostet, unsere Chefs flippten aus, aber Sissi erklärte nur, dass bei ihr in London es eben andere Preise gewesen seien…. Glaube das, wer will….
Sissi kratzt bisher immer wieder die Kurve. Wenn eine ihrer Lügen auf zu fallen droht, kontert sie mit ihrem Charme und bringt die passende Erklärung für ihr Malheur. Man kann ihr dann fast nicht böse sein. Und verzeiht. Denn auf der anderen Seite ist Sissi eine tolle Freundin und Ratgeberin, man ist einfach gern mit ihr zusammen.
Aber Sissi verstrickt sich immer mehr in ein Geflecht von Unwahrheiten aus denen sie nicht mehr raus kommt. Die mich und meine Kollegen langsam in die Bredouille bringen. Das macht die Sache jetzt brenzlig.
Denn es geht um einen großen und sehr wichtigen Auftrag. Unser Modeschmuck wird vielleicht bald in einer großen Kaufhauskette verkauft. Das wäre phantastisch. Die Entscheidung ob wir den Zuschlag bekommen, hängt an unserem Konzept. Wir müssen uns also anstrengen. Im ersten Team-Meeting sammelten wir Ideen für Tresen- und Flächengestaltung. Sissi sagte, sie hätte beste Beziehungen zu einem Interior Designer, mit dem sie Jahren bekannt sei und der uns das günstig machen könnte. Als gebranntes Kind fragte ich sie nach dem Namen des Designers. Erst konnte sie sich nicht genau daran erinnern, was seltsam ist, wenn man jemanden seit Jahren kennt. Schließlich nannte sie mir einen McNamen, vermutlich damit ich in der Team-Sitzung endlich nicht mehr nachfrage. Ich googelte den angeblichen Designer, nichts. Ich stellte sie zur Rede, sie sagte, ich hätte den Namen wohl falsch verstanden. Unser Gespräch wurde aggressiv.
Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Ich bin fast sicher, dass der „befreundete Designer“ eine Erfindung von Sissi ist. Ein Murks Konzept würde uns alle in den Abgrund reißen, wir brauchen den Auftrag. Falls es den günstig arbeitenden Standbauer aber tatsächlich gibt, würde unser Angebot ein Hammer. Was soll ich machen? Ein letztes Mal glauben und vertrauen?
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